Das zentrale Thema des Films ist die Hoffnung.
Kaurismäki erzählt zu Beginn seines »Manns ohne Vergangenheit« eine »unerhörte Begebenheit«: Ein Mann befindet sich auf einer Zugreise irgendwo im finnischen Nirgendwo und steigt an einem Bahnhof aus. Es ist Nacht oder zumindest später Abend. Er setzt sich auf eine Bank in einem Park und wird von einer Gruppe randalierender Jugendlicher ohne ersichtlichen Grund derart zusammengeschlagen, daß er bewußtlos in sich zusammensackt. Der mutmaßliche Anführer der Bande schlägt, als er zu Boden liegt, noch einmal mit einem Baseballschläger auf ihn ein. Die Gruppe raubt ihm sein Portemonnaie und macht, bevor sie den Schauplatz verläßt, das Transistorradio des Mannes an und verschwindet. Dort am Boden liegend erwacht er irgendwann, rettet sich mit letzter Kraft in ein Gebäude, blutüberströmt, und bricht auf einer öffentlichen Toilette in sich zusammen.
Man findet ihn, bringt ihn in ein Krankenhaus; in der nächsten Einstellung wird er in einem Bett liegend mit vollkommen bandagiertem Kopf gezeigt. Eine Schwester ist bei ihm, sein Puls wird flacher und schließlich hört sein Herz zu schlagen auf. Die Schwester deckt ihn zu und verläßt, voll von Mitleid, das Zimmer. Schließlich erwacht der Mann ruckartig, sitzt senkrecht in seinem Bett und verläßt das Krankenhaus. Immerhin, er lebt, doch er hat sein Gedächtnis verloren. Er kann sich weder an seinen Namen, noch an seine Vergangenheit erinnern: er ist der »Mann ohne Vergangenheit« und der Film entwickelt, besser: ›aus-wickelt‹ seine Geschichte.
Der Mann, beeindruckend gespielt von Markku Peltola, hat, entkommen aus dem Krankenhaus, das Glück, von einer Familie aufgenommen zu werden, die sich um ihn kümmert. Wie so oft in Kaurismäki-Filmen leben die Hauptcharaktere in ärmlichen, ja kärglichen Verhältnissen, lassen sich aber von der reinen Faktizität ihres Daseins nicht niederdrücken, sondern entwerfen sich hoffnungsvoll in die Zukunft. Sie sind arm, aber sie haben das, was man im Deutschen ein »gutes Herz« nennt. Sie leben ganz im »Hier und Jetzt«, es gibt das Morgen und es gibt auch das Gestern, doch das Leben zwingt sie, sich auf das Gegenwärtige zu konzentrieren. Das Leben ist für sie ganz Gegenwart. Es dreht sich zumeist um alltägliche Fragen, z. B. wie man die nächste Miete zahlen soll, wo man die nächste warme Mahlzeit herbekommt, wo man nächste Nacht schläft oder wie man sich das nächste Bier leisten kann. Diese Allgegenwart der Armut und des Lebens »von der Hand in den Mund« bedrückt die Menschen in einer gewissen Weise schon, sie machen sich Sorgen um das Heute, das Morgen, aber sie geben trotzdem die Hoffnung nie auf und sind, das ist das kennzeichnende, mit dem wenigen zufrieden, das sie haben. Kein Kaurismäki-Charakter zetert mit dem Schicksal, und wenn er es doch tut, dann nur für einen Moment, und im nächsten Moment macht er weiter und läßt sich durch die Härten des Lebens nicht weiter beeindrucken. Generell stellt er sich keine tiefgreifenden Sinnfragen über das Dasein an sich, ihn interessiert nur sein konkretes Dasein im Jetzt und wie er es möglichst sinnvoll gestalten bzw. teilweise: wie er es auch nur erhalten kann. Sein Glück entdeckt er »nebenan«, im sogenannten Einfachen, und die nächste warme Mahlzeit, der nächste Lohn oder ein festes Dach über dem Kopf für die nächste Nacht sind wichtiger als die ferne Zukunft, über die zu spekulieren sowieso sinnlos ist, weil der nächste Tag schon der letzte sein kann.
Insofern spielt Peltola einen typischen Kaurismäki-Charakter. Das Entscheidende an diesem »Mann ohne Vergangenheit« ist jedoch, daß Kaurismäki hier tabula rasa macht: Der Mann verliert mit einem Schlag auf den Kopf nicht nur sein Gedächtnis und seinen Namen, sondern damit auch seine Identität, die sich aus Name und Geschichte, das heißt: Biographie zusammensetzt. Er ist sprichwörtlich ein »Niemand«. Er befindet sich, nach seiner Flucht aus dem Krankenhaus, am absoluten Nullpunkt seiner Existenz. Er hat nur noch sich als Person, seinen Geist, seinen Körper und seinen Willen, die er gebrauchen kann. Als dieser Niemand »rettet« ihn die Familie, die ihn aufnimmt und ihm in ihrem Wohncontainer wieder auf die Beine hilft. Hier beginnt im Kern so etwas wie eine ›Erfolgsgeschichte‹: Der Mann erholt sich relativ schnell. Mit dem Familienvater freundet er sich an und er fängt an, seine Identität wiederzuerlangen: Er ist mit ihm ein Bier in einer Wirtschaft trinken und wird von ihm nach seiner Vergangenheit befragt; der Mann kann keine Auskunft geben, er weiß nicht einmal, ob er gerne Bier getrunken hat; der Familienvater stellt jedoch fest, daß er Arbeiterhände habe und nicht wie ein Bücherwurm aussehe. An diesem Punkt beginnt sich seine Identität wieder schrittweise zusammenzusetzen. Im weiteren Verlauf fängt er an, sich an Einzelnes zu erinnern. Mit dem Wiedererlangen seiner Identität einher geht das allmähliche Aufbauen seiner Existenz. Bald hat er seinen eigenen Container, den er bewohnen kann. Auf dem Müll findet er eine alte Jukebox, die er repariert und aufbaut. Im Frühjahr pflanzt er zwei Kartoffeln und eine Zwiebel an und von der Ernte kocht er irgendwann seine erste Suppe.
Als er mit der Familie eines Sonntags Essen geht (zur Suppenküche!), lernt er Irma (Kati Outinen) kennen, die für die Heilsarmee arbeitet und ihm ihre Visitenkarte mit der Adresse der lokalen Altkleidersammlung gibt, wo er sich neu einkleiden soll, da ihn so keiner ernstnähme. In dem Kaufhaus der Heilsarmee findet er seine erste Arbeit und Irma wird, nach anfänglichem Widerstand, seine Geliebte. So spinnt sich die Geschichte fort und der Mann »macht« sein Glück. Er läßt sich in keiner Sekunde davon beeindrucken, daß er mit dem Verlust seines Gedächtnisses, seiner Identität und seiner Existenz scheinbar »alles« verloren hat, sondern setzt sein Leben unbekümmert und unbeeindruckt davon fort, ohne jedoch naiv zu sein. Er weiß, wo er steht, aber er hat Hoffnung und entwirft sich vom »Hier und Jetzt« ins Morgen.
Es läßt sich sicher auch mit Recht sagen, daß der »Mann ohne Vergangenheit« nicht ganz frei von Messianismus ist: Indem er sich nämlich nicht von der reinen Faktizität seines Daseins beeindrucken läßt, die darin bestehen könnte, daß er alles verloren hat, sondern gegen alle äußeren Widerstände weitermacht. Er lebt ein Leben des »als … nicht«: als hätte er nicht alles verloren. Dies schafft für ihn beileibe keine neue substantielle Existenz, sondern verleiht ihm vielmehr die Fähigkeit, seinen je individuellen Umstand in einer für ihn guten Weise zu »gebrauchen«. »Wenn du als Sklave berufen bist«, schreibt Paulus, »soll dich das nicht bedrücken; aber wenn du frei werden kannst, mach lieber Gebrauch davon.« 1 Kor 7,21. Der Mann ohne Vergangenheit macht in diesem Sinne »Gebrauch« von seiner Situation, die man als hoffnungslos betrachten könnte, die er aber außer kraft setzt und somit einen neuen Handlungsspielraum gewinnt, den er konkret für sich zu nutzen weiß. Dies ist ein Ausdruck der tiefen Menschlich- und Mitmenschlichkeit der Filme Aki Kaurismäkis. Im Prinzip könnte man seine Filme auch als Meditationen über das christliche Gebot der Nächstenliebe begreifen. Jedenfalls sind die drei zentralen paulinischen Gebote – »Glaube, Liebe, Hoffnung« – in allen Filmen präsent.
Walter Benjamin schreibt am Ende seines Essays über Goethes »Wahlverwandtschaften«: »Die Hoffnung ist uns nur um der Hoffnungslosen willen gegeben«;Walter Benjamin: Goethes Wahlverwandschaften, in: ders., hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/Main 1991, Bd. I/1, 201. der »Mann ohne Vergangenheit« könnte einer dieser Hoffnungslosen sein, um deren willen uns, laut Benjamin, die Hoffnung gegeben sei, aber er ist es nicht, und das macht die Hoffnung dieses Films aus: Daß er nicht verzagt oder verzweifelt angesichts seiner Situation; daß das überhaupt keine Möglichkeit darstellt, sondern daß die einzige Option Weitermachen und Nach-vorne-schauen ist, wofür er am Ende auch belohnt wird. In der Haltung dieses scheinbar so einfachen Mannes steckt eine tiefe Weisheit, die nicht verbalisiert zu werden braucht, weil sie sich in der alltäglichen Lebenspraxis »zeigt«.