»We need to talk about Kevin« von Lynne Ramsay erzählt in Rückblenden die Geschichte von Kevin (Ezra Miller), von seiner Zeugung bis zu seiner Volljährigkeit. Über Kevin muß ›geredet‹ werden, weil er ein Problemkind ist und weil er von seinem Wesen her das ist, was Immanuel Kant das ›radikal‹ oder ›teuflisch Böse‹ genannt hat.Vgl. Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, in: ders., Werke in sechs Bänden, Darmstadt 1956, Bd. 4, 649‒883, bes. 675‒694.
Kevin ist der Attentäter eines Schulmassakers, das er im Alter von etwa 16 Jahren begeht und das im Film den Fixpunkt darstellt, von dem aus die gesamte Handlung erzählt wird. Schon zu Beginn des Films, als man seine Mutter Eva (Tilda Swinton) auf einer Couch aufwachen sieht ‒ der Couchtisch vollgestellt mit dreckigem Geschirr, Tabletten fallen auf den Boden, als sie gegen den Tisch stößt ‒, merkt man, das etwas hier nicht ›stimmt‹. Man sieht, daß ihr Haus und ihr Auto mit Unmengen frischer roter Farbe beschmiert sind. Als sie sich auf den Weg zur Arbeit macht und sich ins Auto setzt, muß sie die Windschutzscheibe mühsam von der roten Farbe befreien, die aber lediglich verschmiert. Im Autoradio ertönt, Evas angestrengtem und besorgten Gesichtsausdrucks völlig unangemessen, fröhlich und viel zu laut Countrymusik. Auf der Straße wird sie von einer zivilisiert und vornehm aussehenden Dame mittleren Alters scheinbar vollkommen unmotiviert beschimpft und ins Gesicht geschlagen. Ein Passant will ihr helfen, dessen Angebot sie aber zurückweist und entgegnet, es gehe ihr gut, es sei ihre Schuld. Der Handlungsstrang wird unterbrochen von ertönenden Polizeisirenen, man sieht Eva zu einem Tatort kommen, an dem sich eine Traube von erregten Menschen gebildet hat, zwischen denen sie versucht, sich einen Weg zu bahnen. Ab diesem Zeitpunkt weiß man als Zuschauer, das etwas Schlimmes passiert sein muß.
Kevin (Ezra Miller) holt einen seiner abgekauten Fingernägel aus seinem Mund hervor. (© BBC Films / UK Film Councils) Schließlich sieht man sie am Tisch in einem Besuchsraum eines Gefängnisses sitzen, wo eine Person, von der sich erst später herausstellt, das es ihr Sohn Kevin ist, sich die Fingernägel mit den Zähnen nacheinander abkaut und sie fein säuberlich der Reihe nach auf den Tisch legt. Man hört das Geräusch des Abbeißens der Nägel, ansonsten herrscht Stille, dann verläßt Eva den Raum, die Besuchszeit ist um.
Dies ist die Exposition des Films und im Folgenden wird die Geschichte von Kevin erzählt, der scheinbar von Geburt an böse ist. Er kommt bereits als Schreikind zur Welt und beinahe alles, was er von seiner Geburt bis zu dem Schulmassaker tut, ist böse. Der Film legt die Erklärung nahe, daß die fehlende Liebe Evas zu ihrem Kind der Grund seines Böseseins ist. Schon während der Geburt fordert der Arzt sie auf, keinen Widerstand zu leisten und wenn man die Situationen zwischen ihr und Kevin im weiteren Verlauf der Handlung beobachtet, dann bemerkt man, daß sie sich äußerlich alle Mühe gibt, daß sie wirklich versucht, eine gute Mutter zu sein, daß es ihr aber an echter Zuwendung und Liebe fehlt. Im Gegensatz zu Kevins Vater (John C. Reilly) kann sie keine wirkliche Beziehung zu ihrem Sohn aufbauen. Dies ist auch das eigentliche Thema des Films: das Scheitern der Mutter-Kind-Beziehung, das Fehlen echter Liebe zwischen Mutter und Sohn und dessen sittlich-moralische Entartung. Bevor Kevin am Ende des Films das Schulmassaker begeht, tötet er vorher seinen Vater und seine kleine Schwester. Dies läßt sich auch als Akt der Rache an seiner Mutter interpretieren: Als Rache an ihr und ihrer fehlenden Liebesfähigkeit zerstört er ihr Leben.
Es handelt sich hierbei jedoch um eine nachträgliche Rationalisierung: Man macht die sozialen Verhältnisse Kevins dafür verantwortlich, daß sich aus ihnen sein böser Charakter quasi deterministisch ergibt. Dies erklärt dann seine ungeheure Tat und das kann Vergebung nach sich ziehen, es läßt das Böse menschlich erscheinen. Indem der Film die Ursache des Bösen in der Erziehung lokalisiert, schwächt er seine Aussage ab, denn das radikal Böse ist unbegreiflich, grundlos, es entzieht sich jedem Verständnis. Je weniger Sinn das Böse hat, je weniger wir die Maßstäbe unserer Vernunft an es anlegen können, desto böser ist es. Das radikal Böse verweist nur auf sich selbst, es hat keinen Grund in etwas anderem, sondern nur in sich. Das Problem, das sich im Film und bei der Betrachtung des Bösen stellt, ist das Verhältnis von Determinismus und freiem Willen: Wenn man einen Milieu- oder Charakterdeterminismus Kevins annimmt, folgt daraus, daß er eigentlich unschuldig ist, weil Schuld einen freien Willen voraussetzt. Es stellt sich die Frage, ob man Kevin als determiniert von den Umständen verstehen kann, oder ob man bei ihm einen freien Willen voraussetzen darf, das heißt, daß er sich zu jeder seiner Taten ›frei‹ entschieden hat. Der Film suggeriert ‒ das darf man wahrscheinlich festhalten ‒, daß jede seiner Entscheidungen eine bewußte und freie war und er sich somit bewußt für das Böse entschieden hat, weil er bis in den Kern seiner Persönlichkeit hinein böse ist ‒ daß er das Böse zum Prinzip seines Handelns erkoren hat.
Bereits als er ein kleines Kind ist, scheint er von Grund auf böse zu sein. Dies wäre vielleicht die Radikalität und gleichzeitig der Realismus des Films: daß er Kevin als von Grund auf böse erscheinen läßt und dafür einen freien Willen als Erklärung zugrundelegt, er aber auch das Milieu, die fehlende Mutterliebe dafür verantwortlich macht. Lynne Ramsay zeichnet eine sehr präzise Charakterstudie eines von Grund aus bösen Menschen und wie dessen Leben genetisch-biographisch in einer abscheulichen Tat kulminiert, ohne die Verhältnisse außer acht zu lassen. Insofern ist »We need to talk about Kevin« in einem Höchstmaß radikal, ohne dabei unrealistisch zu sein. Freilich hätte Ramsay die Geschichte von Kevin auch als die eines Kindes und Jugendlichen erzählen können, der in sehr behüteten und liebevollen Verhältnissen aufwächst und der vollkommen grundlos böse ist. Damit wäre die Darstellung aber nicht mehr realistisch, sondern würde einem Formprinzip gehorchen, das letztlich idealistisch ‒ ›idealistisch‹ verstanden als reine ›Kopfgeburt‹ ‒ wäre.
Eine Situation zu Anfang des Films verdeutlicht sinnbildlich dieses
Kevin (Rock Duer) ist nicht zum Ballspiel zu bewegen. (© BBC Films / UK Film Councils) Spannungsverhältnis zwischen dem von-Grund-auf-böse-Seins Kevins und der fehlenden Liebe seiner Mutter: Man sieht ihn als etwa Zweijährigen (Rock Duer) Eva auf dem Boden gegenübersitzen. Sie fordert ihn auf, ›Mama‹ und ›Ball‹ zu sagen; er guckt sie an, als verstehe er sie nicht. Schließlich rollt sie ihm den Ball zu und ermuntert ihn, ihn zurückzuspielen, woraufhin Kevin nicht reagiert und sie einfach weiterhin teilnahmslos anschaut. Die Art seines Blicks und seine fehlende Reaktion veranschaulichen, daß Kevin bereits als Kleinkind böse war, stellt aber auch die Frage, inwiefern er es wurde. Eva ist mit der Situation, das heißt: mit ihm als Kind offenbar vollkommen überfordert. Sie ist sehr bemüht, will mit ihm spielen, aber sie kann keine echte Liebe, keine wirkliche Anteilnahme für ihn aufbringen. Kevin verhungert emotional, weil es ihm an Geborgenheit und Herzenswärme fehlt, letztlich: weil die Mutter-Kind-Bindung gestört ist. Eva ist hilflos und überfordert. Sie läßt ihn untersuchen; ob ihm etwas fehle, ob er vielleicht autistisch sei oder schlecht höre. Er ist natürlich kerngesund. In der nächsten Szene rollt er den Ball zurück.
Etwa in der Hälfte des Films macht der Film einen zeitlichen Sprung und zeigt Kevin als heranwachsenden Teenager. Bereits als Kind hatte er von seinem Vater eine Ausrüstung zum Bogenschießen bekommen, nun übt er sich professionell darin. Natürlich ist er auch als Jugendlicher ein Problemfall und als Zuschauer verfolgt man beklemmend die Entwicklung hin zum school-shooting, in dem der Film kulminiert.
In einer Szene wird diese ganze Grundlosigkeit des Bösen besonders deutlich, näm- lich als Eva Kevins Zimmer durchsucht und eine CD mit der Aufschrift »I love you« findet. Dies weckt ihre Aufmerksamkeit, in der Hoffnung, ihren Sohn besser zu verstehen und zu begreifen, was ihn gerade umtreibt. Sie nimmt die CD mit und legt sie in ihren Laptop ein. Auf dem Bildschirm erscheinen in schneller Folge Bilder, Eva versucht die Disk herauszunehmen, es stellt sich heraus, daß die CD eine Bootdisk ist und den Laptop zerstört. Am Ende taucht auf dem Bildschirm der Schriftzug »You lost« auf. Daraufhin kommt sie in sein Zimmer und spricht ihn darauf an, welchen Sinn es habe. Er fährt fort, auf seinen Bildschirm zu starren und möglicherweise ein Computerspiel zu spielen und sagt, er sammle sie, woraufhin Eva fragt: »But what’s the point?«, worauf Kevin antwortet: »There is no point. That’s the point.« Dies zeigt den vollkommenen Nihilismus des Bösen, der jeden Wert verneint. Der Sinn des Bösen ist das reine ›Nichts‹, die vollkommene Verabschiedung aller tradierten Werte- und Moralvorstellungen.
Seinen vollkommensten Ausdruck findet dieser Nihilismus in dem eigentlichen Schulmassaker. Hier drückt sich die ganze Hybris des Bösen aus. Indem Kevin das radikal Böse tut und seine Mitschüler kaltblütig mit Pfeil und Bogen wie Jagdwild erlegt, setzt er sich absolut und macht sich damit gottgleich. Er wird zum Herrn über Leben und Tod.
Im Anschluß an seine Tat, nachdem er alle getötet hat, breitet er seine Arme aus und verbeugt sich vor der leeren Halle – er fühlt sich wie Gott. Danach tritt er erhobenen Hauptes mit der Miene des Siegers vor die Eltern und Freunde seiner Mitschüler und liefert sich den Beamten aus. Dieses reine Nichts, das sich in seiner Tat ausdrückt, ist das Spiegelbild der schmerzlichen Leere in seinem eigenen Inneren. Psychoanalytisch gesprochen ist die Vernichtung seiner Mitschüler Kevins einzige Möglichkeit, sich davon zu überzeugen, daß er noch existiert. Der französische Psychoanalytiker André Green drückt es folgendermaßen aus: »Das Böse ist ohne ›Warum‹, weil es seinen Daseinszweck darin sieht zu verkünden, daß alles, was existiert, keinen Sinn hat, keiner Ordnung gehorcht, kein Ziel verfolgt, nur davon lebt, seinen Willen den Objekten seiner Begierde aufzuzwingen.« Zit. nach: Peter Dews, The Idea of Evil, Oxford 2007, 133. Mit Blick auf den Nationalsozialismus schreibt Karl Jaspers: »[…] die Lust am Sinnlosen, am Quälen und Gequältwerden, an der Zerstörung als solcher, die Wut auf Welt und Menschen mit der Wut auf das eigene verachtete Dasein […].« Karl Jaspers, Von der Wahrheit, München 1991, 959. Dies ist genau das Nichts Kevins, das er in seinem Inneren hat und das er der äußeren Welt, seinen Mitschülern, aufzwingt. Kevins Ekel vor der Welt ist im Kern ein Ekel vor sich selbst. Er zerstört, um seinen eigenen inneren Konflikt zu lindern, in dem er gefangen ist. Insofern ist das Schulmassaker als Ausdruck des radikal Bösen eine Form von Projektion.
In der letzten Szene des Films besucht Eva Kevin im Gefängnis.
Kevin (Ezra Miller) ist sich des Sinns seiner Taten nicht mehr so sicher. (© BBC Films / UK Film Councils)Man sieht ihn mit
kurzgeschorenen Haaren verschüchtert und gezeichnet in die Kamera gucken ‒ das Gegenteil von seiner einstigen Selbstsicherheit. Eva wirkt kalt und abgeklärt. Sie stellt zu Beginn des Gesprächs fest, das er nicht glücklich aussehe, woraufhin er entgegnet: »Have I ever?« Sie macht ihn darauf aufmerksam, daß heute der zweijährige Jahrestag seines Schulmassakers ist und er kurz vor seinem 18. Geburtstag stehe. Er weiß darum. Nun stellt sie zwei Jahre nach der ungeheuerlichen Tat die Frage: »I wan’t you to tell me, why?« Daraufhin entsteht eine lange Pause, sie schaut ihn aufmerksam, fragend an. In der nächsten Einstellung sieht man ihn, er guckt unsicher, aus dem Seitenprofil heraus, zurück und sagt, nachdem er länger nachgedacht und sie ihn weiter angeschaut hat, nach etwa 15 Sekunden Schweigen: »I used to think I knew. I’m not so sure.« Sie nickt. Er fürchtet vielleicht ihr Urteil. Plötzlich ist die Besuchszeit um und Kevin steht auf und geht ein/zwei Schritte auf sie zu. Sie nimmt ihn in den Arm. Und diesmal ist es echt. Es ist der Moment, in dem er all das bekommt, was er sein Leben lang entbehren mußte. Insofern läßt sich Lynne Ramsays Film als Kritik an Familienverhältnissen lesen, in denen Kinder ohne Liebe aufwachsen müssen und dadurch zu Monstern werden. Der Film ist nicht zuletzt eine Auseinandersetzung mit der relativ neuen Realität der Schulmassaker. Und wenn es erneut zu solch einem Schulmassaker kommt, stellt sich von Neuem die Frage nach dem Sinn. Die Antwort auf die Frage dürfte sein, daß der Sinn das radikale Nichts ist, die Verneinung allen Sinns. In solchen Situationen wird die Gesellschaft unmittelbar mit sich selber konfrontiert und der psychischen Gewalt, die sie auf den Einzelnen ausübt und damit solche Taten ermöglicht. Lynne Ramsay gelingt es, eine überzeugende Charakterstudie eines solchen Attentäters zu zeichnen.