Das Schicksal 8. August 2022

Fernando Meirelles: 360 - Jede Begegnung hat Folgen (2011)

360 – das ist Kreislauf und Multiperspektivität. 360° beschreibt die Umlaufbahn eines Kreises. Als solche ist die Bewegung prinzipiell endlos. – Vom Standpunkt des Zentrums, des Kreismittelpunktes fächert sich die Perspektive in jede beliebige Richtung auf. Diese Bedeutungsaspekte des Titels werden vom 2011 erschienenen Episodenfilm von Fernando Meirelles eingelöst.

Der Film beginnt in medias res: In der ersten Einstellung sieht man eine junge, attraktive, etwas fremdländisch anmutende Frau vor einer Kamera posieren. Der Bildausschnitt ist zuerst einmal nur auf sie gerichtet. Sie wird von einem Mann photographiert, der ihr in einer seltsamen, etwas dubios wirkenden Mischung aus schlechtem Englisch und Wiener ›Schmäh‹ Anweisungen gibt. An der Art seiner Diktion und der etwas kumpelhaft-anzüglichen Sprache – allein über die Weise, wie er die Frau ›Schatzi‹ nennt, ließe sich vieles sagen – wird schnell klar, daß es sich um einen schmierigen, zumindest leicht fragwürdigen Charakter handelt. Er fordert die Frau auch bald auf, sich vor der Kamera auszuziehen,
Blanka als Edelprostituierte in einer Bar. (© 2012 PROKINO Filmverleih GmbH)
was diese ohne sichtlichen Widerwillen tut. Nun drängt sich schnell der Eindruck auf, daß es sich nicht um ein seriöses Photoshooting handelt, daß es nicht ganz ›mit rechten Dingen‹ zugeht. Im weiteren Verlauf zeigt sich, daß die Photos für ein Internetportal gemacht werden, auf dem sich junge Frauen als Edelhuren prostituieren. Die Frau wird im Anschluß gefragt, wie sie heißen möchte – sie bekommt erst jetzt einen Namen und es wird im Laufe des Films nicht aufgelöst, ob es ihr echter oder ein Künstlername ist. Sie gibt sich den Namen ›Blanka‹.

Zu Beginn des Photoshootings, noch bevor Blanka sich auszieht, wird eine Stimme aus dem Off eingeblendet. Was sie sagt, kann als programmatisch für den gesamten Film gelten: »Ein weiser Mann hat gesagt: Wenn du an eine Weggabelung kommst, nimm sie. Er hat nicht gesagt, welche Abzweigung man nehmen soll. Wer hat uns hierher geführt. Wie weit reicht alles zurück? Weggabelung um Weggabelung. Ich frage mich, wäre ich so oder so hier gelandet und würde mir diese Fragen stellen. Oder hätte es auch anders kommen können, wenn auch nur eine Person auf dem Weg hierher eine andere Abzweigung genommen hätte?« Unterbrochen wird die Offstimme immer wieder von anzüglichen Kommentaren des Zuhälters und seinem Räuspern, das beim Betrachter Ekel hervorruft.

Es geht um Entscheidungen, um ›Zufälle‹, um ›Schicksal‹. Daß das ganze Geschehen, das wir unser Leben nennen, nicht so zufällig, im Sinne reiner Kontingenz ist, sondern daß es auch Momente von ›Bestimmung‹, von Determination haben kann. – Daß es schwierig ist, von einem ›freien Willen‹ zu sprechen, bzw. daß unser Handeln uns als frei erscheint, daß es aber so frei oft nicht ist, sondern unser Leben wesentlich durch Zufälle und Schicksal bestimmt wird. Ob man es Zufall, im Sinne von naturwissenschaftlicher Kontingenz, oder Schicksal nennt, ist dann nur eine Frage der Perspektive. Letztlich entzieht sich diese Frage nach der Freiheit des Willens unserer Erkenntnisfähigkeit. Uns erscheint unser Wille als frei, aber ob er es tatsächlich ist, läßt sich mit den Mitteln des Verstandes nicht entscheiden. Man könnte den Film, nicht zuletzt, als eine Auseinandersetzung mit dieser Problematik betrachten. Freilich geschieht dies mit den Mitteln des Films: es wird ›gezeigt‹ oder dargestellt, nicht diskursiv oder begrifflich erörtert.

In »360« werden verschiedene Handlungsstränge entwickelt, die sich gegen- und wechselseitig überlappen. Dies kennzeichnet seine spezifische Multiperspektivität, die Fernando Meirelles sehr geschickt und handwerklich gelungen versteht zu komponieren. Neben dem Schauplatz in Wien spielt der Film unter anderem in Bratislava, in Paris, in London, in Colorado und in Phoenix. Jeder Schauplatz hat seine eigenen Charaktere, seine eigenen Handlungsstränge, wobei sich diese Handlungsstränge allerdings kreuzen und Personen, die eigentlich verschiedenen Erzählsträngen zugehören, sich nicht nur begegnen sondern wechselseitig Einfluß aufeinander ausüben, der den weiteren Verlauf der Geschichte bestimmen kann. Filmisch realisiert wird dies sehr gekonnt durch Splitscreens und Überblendungen. Der Film ist in sich ›verwoben‹ im etymologischen Sinne von Text, das sich von lateinisch ›textura‹ herleitet und ein ›Gewebe‹ oder ›Gewobenes‹ bezeichnet. »360« ist dabei schön erzählt und der Plot bzw. die Plots erzeugen streckenweise eine Spannung, die einem sprichwörtlich ›das Blut in den Adern gefrieren läßt‹:

Etwa
Tyler im Flughafenrestaurant. (© 2012 PROKINO Filmverleih GmbH)
in einer Szene in der Mitte des Films, die auf einem amerikanischen Flughafen spielt. Es wird die ›zufällige‹ Begegnung von Tyler (Ben Foster) und Laura (Maria Flor) geschildert, die sich in einem Flughafenrestaurant kennenlernen, nachdem John (Anthony Hopkins), der eigentlich mit Laura zum Abendessen verabredet war, sich verspätet. Tyler ist gerade aus einem Gefängnis für Sexualstraftäter entlassen worden und auf dem Flug zu einer Wiedereingliederung nach Phoenix. In der Szene setzt sich Laura an Tylers Tisch und fängt nach kurzer Zeit ziemlich offensichtlich an, mit ihm zu flirten. Man merkt, welche Anstrengung es Tyler kostet, ihr zu widerstehen. Er hat große Angst, rückfällig zu werden. Schließlich landen sie ›auf einen Drink‹ in ihrem Hotelzimmer und man rechnet als Zuschauer damit, daß er sie im nächsten Augenblick vergewaltigen und töten wird.

Tyler, der mutmaßlich Johns Tochter umgebracht hat
John umarmt Laura. (© 2012 PROKINO Filmverleih GmbH)
– zumindest suggeriert das der Film –, tut es nicht und auch das ist eine Entscheidung, vermutlich die radikalste und folgenreichste in »360«. Die Handlung bzw. Unterlassung erscheint als freier Wille, als Triumph des Willens über die niederen Triebe des Menschen. Doch wie ›frei‹ dieser Wille wirklich war, läßt sich nicht entscheiden. Vielleicht ist er auch nur das Ergebnis einer Verkettung von Ursachen, die ihren Grund in etwas anderem haben. Der Film scheint nahezulegen, daß das, auch, das Leben ist: eine endlose Verkettung von Ursache- und Wirkungszusammenhängen, die sich wechselseitig beeinflussen und bei denen es sich nicht auflösen läßt, welcher Grund welches Ereignis hervorgerufen hat, welche Entscheidung welche Konsequenzen usw. »360« ist voller Entscheidungssituationen – kairotischen Momenten –, die in sich zusammenhängen.

Diese Entscheidungssituation, in der sich jeder von uns jederzeit befindet – man kann sich nicht nicht entscheiden, jede Nichtentscheidung ist auch eine Form von Entscheidung –, wird im Film reflektiert: In Paris wird ein Mann gezeigt, der eine Frau mit einem Auto verfolgt. Es stellt sich heraus, das er Zahnarzt ist und die Frau seine Angestellte, und daß der Mann in sie verliebt ist. Als gläubiger Moslem fragt der Zahnarzt seinen Imam um Rat, was er tun solle. Dieser beschwichtigt ihn, nicht vom Weg abzukommen, daß er sich auf sein Volk und seine Religion besinnen solle, und schließlich sagt: »Ist es nicht der Sinn des Lebens, ein guter Mensch zu sein? Es ist die höchste Bestimmung.« Im Gegensatz zum Imam, der ihm von dieser Liaison abrät, weil Valentina verheiratet ist, ist seine Therapeutin verhaltener. Sie gibt zu Bedenken: »Die Psychotherapie nimmt ihnen keine Entscheidung ab. Ich werde ihnen nicht sagen, was sie tun oder lassen sollen. Sie allein entscheiden. Und sie tragen die Konsequenzen.« Dies ist der Stand des modernen Menschen: die Normen und Werte der Religion bieten keine Orientierung mehr auf die zentrale Frage, was man tun soll; der Mensch muß frei entscheiden, jeden Augenblick aufs Neue.

Jeder Charakter in »360« hat seine Licht- und Schattenseiten. Freilich sind manche eher gut, andere eher schlecht, aber alle eint, daß sie versuchen, gute Menschen zu sein. Die Äußerung des Imams legt nahe, daß dies auch die eigentliche Entscheidung an der Weggabelung ist: daß man sich dafür entscheidet, ein guter Mensch zu sein, diesen Weg einschlägt und sich nicht davon abbringen läßt.

Letztlich läßt sich »360« als eine Parabel auf das Leben lesen. In der Schlußeinstellung zeigt sich, daß es dem Gesetz des Kreislaufs, der »ewigen Wiederkehr« gehorcht: Man sieht eine junge, attraktive Frau an einer Tür klingeln, hört eine Stimme aus der Gegensprechanlage, die man schnell als diejenige des Zuhälters identifiziert, vor dessen Kamera sie sich schließlich auszieht. Der ganze Kreislauf beginnt von neuem. Die Dinge wiederholen sich und gestalten sich jeden Augenblick aufs neue aus, je nachdem welche Entscheidungen wir treffen. – Das Leben als endlose Folge von Wiederholungen und Permutationen, die sich mit denen eines Möbiusbandes vergleichen lassen. Das Leben besteht, das legt der Film nahe, auch in diesen Überlappungen, diesen ›Zufälligkeiten‹, diesen Verstrickungen, die oft nicht so ›zufällig‹ sind, wie sie scheinen, sondern eigenen Gesetzen gehorchen, die uns manchmal den Eindruck aufdrängen, »als müßte es so sein«, »als hätte es nicht anders passieren können«. Fernando Meirelles kreiert in »360« Versuchsanordnungen in chemisch-naturwissenschaftlichem Sinne, deren Elemente in den ihn immanenten Bewegungen eine spezifische Eigendynamik entfalten und wechselweise Verbindungen, Wahlverwandtschaften eingehen. Insgesamt ist »360 – Jede Begegnung hat ihre Folgen« eine gelungene Adaption von Arthur Schnitzlers Theaterstück »Reigen«, die sich mit filmischen Mitteln den großen Fragen des Lebens, ja der Philosophie nähert, sich dabei aber nicht anmaßt, eine Antwort zu haben.

C.G.
Das Schicksal - August 8, 2022 - Konrad Bucher