Es beginnt mit einem Dammbruch.
Nick (Peter Falk) bei der Arbeit. Die Wassermassen gilt es einzudämmen. (© Faces International Films / Cine-Source) Männer stehen in einem Fluss und versuchen, die Überflutung aufzuhalten. Es ist eine raue Welt, eine Männerwelt. Nick, Vorarbeiter und Sprecher der Gruppe, will für sich und seine Kollegen erwirken, dass sich keine weitere Arbeitsschicht anschließt. Er will und muss nach Hause: „I got an unbreakable date. With my wife.“ Es gelingt ihm nicht – Sachzwänge kennen kein Erbarmen: „The palisades caved in. All night we gotta work.“ Zu Hause bei Mabel anrufen will Nick nicht, obwohl oder gerade weil er weiß, dass sie traurig sein wird. Lieber steckt er – überfordert – den Kopf in den Sand.
Mabel, daheim, übergibt voller Eile die Kinder an ihre Mutter. Sie wartet auf Nick, auf den seit langem ersehnten gemeinsamen Abend.
Mabel (Gena Rowlands) wartet daheim auf Nick. (© Faces International Films / Cine-Source) Vergeblich. Und deswegen bricht auch hier ein Damm. Als Nick sie versetzt, verlässt Mabel – enttäuscht und betrunken – das Haus und spricht in einer Bar einen Fremden an. Die Szene könnte emanzipierend, befreiend sein. Mabel fordert ein, was sie will: dieses Getränk, mehr davon. Doch schon als der Fremde recht aufdringlich mit ihr nach Hause gehen will, wird Mabel das Zepter aus der Hand genommen. Der Barkeeper wünscht dem Fremden beim Bezahlen “Good Luck”. Der Fremde wird aufdringlich, sie wehrt sich, Schnitt zum nächsten Morgen. Dass Mabel darauf besteht, den Fremden Nick zu nennen, ist konsequent – es hätte auch Nick sein können, ihre Rolle wäre dieselbe. Vielleicht ist es auch ein verzweifelter Versuch, sich die Welt so zu machen, wie sie sein sollte: Nick und Mabel Longhetti haben den Abend zusammen verbracht. Auch der Fremde benimmt sich, als wäre er Mabels Mann. Er macht sich Vorwürfe, es sei seine Schuld, dass sie verrückt sei, er habe es noch nie geschafft, eine Frau zu halten.
Es wird das einzige Mal bleiben, dass Mabel im Film Haus und Garten verlässt, sieht man von ihrer Einweisung in die Psychiatrie ab. Mabels Welt ist das Heim, das Innen. Sie kocht, putzt, kümmert sich um die Kinder. Nie besucht sie Andere, sie wird allenfalls besucht oder empfängt Nicks Besuch – ohne dass sie Einfluss darauf hätte, wer kommt. Mabels Leben ist bestimmt durch Passivität, durch Ausgesetztsein und Fremdbestimmung. Wenn sie versucht, Aktivität zu zeigen, mündet das nur wieder in die nächste Fremdbestimmung.
Nicks Welt ist das Außen. Er arbeitet, trinkt mit den Kollegen, kommt heim, um bekocht zu werden und um zu schlafen. Seine Bedürfnisse werden immer befriedigt. Am Morgen, nachdem er Mabel versetzt hat, dem Tag, den Nick als Entschuldigung für die ausgefallene „Love Night“ ganz Mabel widmen wollte, fällt er mit einer Horde hungriger Kollegen zu Hause ein. Mabel ist so sehr an die Fremdbestimmung gewöhnt, dass sie die Gruppe willig bekocht.
Nicks Kollegen sind zu Besuch. Mabel spielt die Gastgeberin. (© Faces International Films / Cine-Source) Nicks Kollegen nehmen Mabel nicht ernst. Das wird etwa deutlich, als sie wütend wird, weil ein Kollege die Küche verdreckt – und er sie auslacht und ihr an den Hintern grapscht. Die Tischgespräche, von Mabel geführt, wirken generisch, wie aus einem Knigge-Ratgeber. Als wäre ihr „normales Verhalten“ antrainiert worden und sie würde sich unter enormen Anstrengungen an die Vorgaben halten. Dabei wirkt sie angespannt und unsicher. Sie will unbedingt gefallen. Doch das missglückt ein ums andere Mal. Als Mabel schließlich in die Psychiatrie eingewiesen werden soll, reflektiert sie diese getrennten Welten und versucht verzweifelt, Nick zurück in ihre Welt zu ziehen: „You’re going with them now and they’re on the outside and we’re supposed to be on the inside. We were always there.“
A Woman Under the Influence ist ein Film über Geschlechterrollen, soziale Konventionen und Bedürfnisse.
Das Thema der Geschlechterrollen ist vielleicht das augenfälligste. Die Beziehung zwischen Mabel und Nick ist klischeehaft arbeitsteilig. Nick kann oder will nicht über seine Gefühle reden. Gegenüber seinen Arbeitskollegen, die ihm nach Mabels Einweisung helfen wollen, wird er aggressiv: „I don’t want anybody discussing my affairs“.
Auf der Heimfahrt vom Strand erstmal(s) ein Bier. (© Faces International Films / Cine-Source)Seine Kinder kennt er überhaupt nicht. Als Mabel in der Psychiatrie ist, nimmt er die Kinder mit zum Strand – ein unbeholfener Versuch, ein Bilderbuch-Vater zu sein. Nick: „I wanna talk to my kids, too.“ Sein Kollege: „Talk to your kids? They never listen.“ Auf der Heimfahrt vom Strand betrinkt sich Nick mit seinen Kindern – die einzige Art von Gemeinsamkeit und Erholung, die er kennt. Ein weiteres Zeugnis seiner fehlenden Empathie und seiner Unfähigkeit, die Bedürfnisse Anderer zu erkennen.
Zu Beginn des Films erklärt Nick einem Kollegen, wieso Mabel nicht verrückt sein kann: „This woman cooks, sows, makes the beds, washes the bathroom, what the hell is crazy about that?“ Mabel füllt die ihr zugedachte soziale Rolle äußerlich aus, sie scheint noch zu „funktionieren“ und das ist der Beweis für Ihr Nicht-Verrücktsein. Als Nick Mabel in die Psychiatrie einweisen lassen will, verspricht Mabel verzweifelt sich, so zu verhalten, wie eine Frau sich zu verhalten hat: „I promise I’ll be content.“ Fast unerträglich ist, wie häufig Mabels Aussehen thematisiert wird.
Mabels Aussehen ist ein ums andere Mal Thema. (© Faces International Films / Cine-Source)Sogar der Arzt, der gekommen ist, um sie in die Psychiatrie einzuweisen, kommentiert „Gee, you’re beautiful.“ und wirft ihr einen Kuss zu. Mabels Kleidung spiegelt einen Übergang vom Mädchen zur Frau wider: Im ersten Teil des Films trägt sie kurze, luftige Röcke und Kleider. Sie wirken unangepasst, sind ein Ausdruck von Kindlichkeit, Unberechenbarkeit, Nichtverformtsein und Freiheit. Als Mabel aus der Psychiatrie zurückkehrt, trägt sie biedere Kleidung, damenhaft und anständig. Die (versuchte) Verwandlung zur Frau, die sich äußerlich vollzogen hat, zeigt sich auch daran, wie Mabel passiver denn je ist, um ja nichts Falsches zu tun oder zu sagen. Mabel hat, was Frauen in unserer Gesellschaft anerzogen bekommen: ein relationales Selbst. Sie sieht sich durch die Augen der Anderen, sieht ihre Fehler, ihre Unangepasstheit, ist verunsichert und versucht weiter zu gefallen. Sie ist bestimmt durch den Blick der Anderen. Als Mabel aus der Psychiatrie zurückkehrt, versucht sie mehr denn je, angepasst zu sein. Das Ergebnis der Therapie scheint der Wille zur Anpassungsleistung zu sein. Nun bemerkt auch Nick es. Er sagt, sie solle wieder sie selbst sein. Aber sie kann nicht mehr. Sie hat ihr eigenes, nicht passendes Ich aufgegeben. Es ist eine Zäsur, hinter die sie nicht mehr zurückzukönnen scheint.
Auch Nicks Mutter füllt ihre weibliche Rolle aus: ihr oberstes Ziel ist der Schutz des privaten Raums, der Familie – nicht primär um ihrer selbst Willen, sondern damit die Außendarstellung stimmt. Maria, Mabels Tochter, soll nicht nackt sein, das gehört sich nicht. Die Etikette muss gewahrt werden. Wenn Nicks Mutter sich Sorgen um Mabels psychische Gesundheit macht, dann, weil Mabel in diesem Zustand unberechenbar ist. Weil sie die ihr angedachte Rolle nicht ausfüllt. Weil sie das Gesamtsystem gefährdet, das für alle Anderen so wunderbar zu funktionieren scheint. Auch Mabel spürt diesen Druck. Sie bemerkt ihre Unangepasstheit und versucht, dazu zu passen. Dabei steht sie unter enormem Druck; immer soll sie funktionieren und nie darf sie ihren Gefühlen Ausdruck verleihen. Da ist es nicht verwunderlich, dass sich diese Gefühle ab und an Bahn brechen, dass der Damm bricht, was dann als Verrücktsein gedeutet wird.
Nick schafft es ein ums andere Mal nicht, für Mabel einzustehen.
Auch als Mabel aus der Psychiatrie zurückkehrt, lädt Nick Leute ein, ohne auf Mabels Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen. (© Faces International Films / Cine-Source) Ihm fehlen die emotionale Reife und das Verantwortungsbewusstsein, ohne dass dahinter böse Absichten zu vermuten wären. Als er an seinem freien Tag, den er nun endlich mit Mabel zu verbringen versprochen hat, wieder arbeiten soll, muss sie am Telefon die gemeinsame Zeit einklagen. Als der Arzt kommt, um Mabel in die Psychiatrie einzuweisen, lügt Nick über die Absichten des Besuchs, weil er es nicht übers Herz bringt, Mabel die Wahrheit zu sagen: „The man is here on a call, a social call. Nobody is sick. Why are you so insecure?“ Ihre Unsicherheit wird Mabel kurze Zeit später auch von Nicks Mutter vorgeworfen. Aber wie könnte man nicht unsicher sein, wenn man ständig belogen und nicht für voll genommen wird? Diese Verantwortungslasten spiegeln sich auch in der älteren Generation wieder. Mabel verlangt von ihrem Vater, für sie einzustehen („Will you please stand up for me?“), aber der versteht nicht einmal, was sie damit meint und steht nur von seinem Stuhl auf – eine Szene, die komisch und tragisch zugleich ist. Auch der Vater ist hilflos und nicht in der Lage, die emotionalen Bedürfnisse seiner Tochter zu verstehen. Stattdessen schickt er sie zu ihrer Mutter. Nicks Mutter wirft Mabel an anderer Stelle vor: „He says you give him nothing, you’re empty inside.“ Es sind die Frauen, die die emotionale Arbeit zu leisten haben; die Männer hingegen haben – neben der harten körperlichen Arbeit – keine Kapazitäten für Gefühle und Empathie.
Soziale Konventionen haben auch in A Woman Under the Influence die Funktion, die Individuen zu entlasten, indem sie ihnen klare Handlungsanweisungen geben. Nur wer sie kennt, kann die gestellten Erwartungen erfüllen oder sich bewusst dagegen entscheiden. Mabel hingegen ist in ihrer Unangepasstheit der Gesellschaft ausgeliefert. Verzweifelt versucht sie, sich konform zu verhalten und verstößt dennoch immer wieder gegen soziale Konventionen. Dadurch ist sie gezwungen, sich komisch zu verhalten, den für sie nicht vorhersehbaren Reaktionen der Anderen ausgesetzt zu sein und nie ernst genommen zu werden. Mehrmals fleht Mabel Nick an, ihr zu sagen, wie sie sich verhalten soll, wie er sie haben will. Nach jeder sozialen Interaktion bedarf sie der Bestätigung Nicks, dass sie nichts falsch gemacht hat. Um all dies zu ertragen, nimmt Mabel Tabletten: „Uppers, Downers, Inners, Outers“.
Bedürfnisse werden nur befriedigt, wenn sie den sozialen Konventionen entsprechen. Mabel hingehen liebt das Singen und Tanzen.
Mabel liebt das Tanzen. (© Faces International Films / Cine-Source) Die Kinder ermuntert sie, sich zu verkleiden. Diese Bedürfnisse verstoßen gegen soziale Konventionen. Mabels Bedürfnisse repräsentieren das Nutzlose, das Unvernünftige. Sie haben auch etwas Kindliches. Sie werden selten gesehen, nie ernst genommen und nie erfüllt, sondern schlicht unterdrückt. Mabel darf nie tanzen und singen – und wenn sie es doch tut, zieht sie den Zorn ihrer Umwelt auf sich und wird als verrückt abgestempelt. Wenn Mabel in Kontakt zur Außenwelt kommt, zeigt sich ihr Anderssein, ihr Nichtreinpassen, ihre „Verrücktheit“. Sie ist der Dammbruch, den die Anderen aufzuhalten versuchen.
Mabel wird im Verlauf des Films immer wieder von unterschiedlichen Personen als verrückt bezeichnet. Alle haben Angst vor Mabels „Verrücktheit“ und auf den ersten Blick wirkt diese Angst, wenn nicht begründet, so doch wenigstens verständlich. Aber wovor haben sie eigentlich Angst? Die Kinder lieben Mabel, sie haben Spaß mit ihr. Mabel wird nie aggressiv oder körperlich übergriffig – anders als etwa Nick, der von allen als “normal” wahrgenommen wird. Während Mabel niemandem etwas getan hat, hat Nick immer wieder brutale Ausbrüche und schlägt Mabel und Andere. Wovor Nick und die Anderen Angst zu haben scheinen, ist allein Mabels Anderssein, ihre Unberechenbarkeit, die Tatsache, dass sie sich nicht an soziale Konventionen hält und damit die bequeme bürgerliche Ordnung stört. Vielleicht fürchten sie, dass sich ihre eigenen unterdrückten Bedürfnisse nach Unvernünftigem Bahn brechen, vielleicht befürchten sie, dass Mabel ihren Kindern Unvernünftiges beibringt. Unklar ist, was Henne und was Ei ist. Ist Nick brutal, weil er nicht mit Mabels „Verrücktheit“ umgehen kann oder ist Mabel „verrückt“, weil Nick nicht zu ihr steht und sich doch immer wieder sozialen Konventionen beugt?
Vielleicht ist das, was für ein individuelles, psychologisches Problem Mabels gehalten wird, in Wirklichkeit ein kollektives, soziologisches Problem.
Alle Blicke sind auf Mabel gerichtet. (© Faces International Films / Cine-Source) Wir schauen auf die Einzelne, werfen ihr vor, dass sie nicht „funktioniert“, die ihr zugedachte Rolle nicht einnimmt, dass sie schwach ist, und suchen die Fehler bei ihr. Dabei übersehen wir, dass gesellschaftliche Strukturen sie dazu bringen, sich so zu fühlen und zu verhalten, wie sie es tut. Keine Psychiatrie kann daran etwas ändern. Auch Mabel sieht die Verrücktheit nicht in sich, sondern in der Außenwelt: „My children, they’re subject to insanity. Insanity morning, noon and night. Go to bed, go to sleep, that’s insanity, isn’t it?“ Verrückt ist für Mabel, sich an soziale Konventionen und die unsinnigen Erwartungen Anderer zu halten, obwohl sie den eigenen Bedürfnissen widersprechen. Solange aber Mabel selbst als verrückt deklariert wird, müssen die Anderen sich nicht mit den strukturellen Problemen beschäftigen. Der titelgebende Einfluss, unter dem Mabel steht, ist so vielleicht der soziale Druck, der ihr „Verrücktsein“ bedingt und dadurch hervorgerufen wird, dass ihre Bedürfnisse nie gehört und erfüllt werden und keinen Raum in einer von gesellschaftlichen Konventionen geprägten, patriarchalen Welt haben.