Das Ausbrechen aus dem Alltag und seinen Alltäglichkeiten, dem ewigen Wechsel von Kurz- und Langeweile, und der Hoffnung, daß dies möglich sei, ist das zentrale Thema des Films. Er handelt vom prinzipiellen Scheitern des american way of life und dem Scheitern des American Dream im Allgemeinen. Er ist damit eine implizite Kritik an der Moderne und ein Loblied auf die Tradition. Und er entwirft die »Möglichkeit einer Insel«.
Die Grundkonstellation
Ankunft Evas in New York. (© 2015 Arthouse Filmverleih) des Films besteht aus dem Leben zweier Freunde, Willie (John Lurie) und Eddie (Richard Edson), in der Großstadt New York Anfang der 1980er Jahre. Beide arbeiten scheinbar nicht und vertreiben sich ihre Zeit mit Glücksspiel, Pferdewetten, Football gucken, Bier trinken und Zigaretten rauchen. Zu Beginn erhält Willie einen Anruf von seiner ungarischen Verwandtschaft, die ihm mitteilt, daß ihn seine Cousine Eva (Eszter Bálint) aus Budapest besuchen werde. Dies erweitert die Dyade zu einer Triade, wobei »Stranger than Paradise« im Wesentlichen die Geschichte von Willie und Eva, als den zwei Hauptcharakteren des Films, erzählt, die um seinen Freund Eddie als eine Nebenfigur erweitert wird. Jarmuschs früher Film ist im besten Sinne ein Kammerspiel auf leerer Bühne, das von den Dialogen, der Stille zwischen ihnen und der Handlung lebt. Der Film gleicht einer Versuchsanordnung von drei Elementen und ihren Aktionen und Reaktionen, in dieser Hinsicht ähnlich der Grundkonzeption von Lars von Triers »Dogville« oder, literarisch, von Goethes »Wahlverwandtschaften«. Dies wird unterstützt dadurch, daß »Stranger than Paradise« hauptsächlich in Innenräumen spielt, die durchweg karg eingerichtet sind. Es herrscht generell eine große Kargheit und Einfachheit im Film. In jedem der Räume, Willies spartanischer Wohnung in New York, dem nicht weniger einfach eingerichteten Haus seiner Tante Lotte in Cleveland und dem Motel in Florida als den Hauptschauplätzen, befinden sich jeweils nur wenige Einrichtungsgegenstände. Die Einfachheit der Einrichtungen korrespondiert mit der Schlichtheit der Dialoge. Es werden nicht viele filmische Mittel angewandt, die dadurch nicht vom Wesentlichen ablenken können: der Handlung.
Der Film gliedert
Willie, Eddie und Eva in ihrem Motelzimmer in Florida. (© 2015 Arthouse Filmverleih) sich grob in zwei Teile, einen längeren ersten, der den Zwischentitel »Die neue Welt« trägt, und einen kürzeren zweiten, der mit »Paradies« überschrieben ist. Diese Titel müssen ernst genommen werden: Amerika ist bekanntlich seit seiner Entdeckung die »neue Welt«, in der die Cousine zu Anfang des Film als eine von Vielen ankommt. Es ist das Land der Verheißungen und der Träume, die in der Geschichte nur allzuoft enttäuscht wurden. Der Zwischentitel »Die neue Welt« evoziert die Allusion an die Bilderwelten eines Campanella oder Morus als den Ersten, die eine Utopie konkret gestaltet und beschrieben haben, aber auch an Huxleys »Brave New World«. In diesem Spannungsfeld bewegt sich der Film implizit. »Stranger than Paradise« suggeriert, daß Florida, wo die drei gegen Ende des Films ankommen, als die Manifestation und der Scheitelpunkt des American Dream das ›Paradies‹ sei. Hierhin brechen Willie, Eddie und Eva auf. Hier ist der Ort ihres vorläufigen Scheiterns, als die beiden Freunde am zweiten Tag ihrer Ankunft fast ihr ganzes Geld bei einem »Hunderennen« verspielen. Es ist aber auch der Ort ihres Glücks, wo sowohl die beiden Freunde am dritten Tag das Geld, diesmal bei einem Pferderennen, wieder gewinnen, und Eva durch eine Verwechslung einen Kuvert mit einem großen Bündel Dollarnoten erhält. Dadurch nimmt der Film in den letzten Minuten eine überraschende Wendung, als Willie und seine Cousine spontan und unvermittelt den nächsten Flug am lokalen Airport nehmen, der ausgerechnet zurück in ihre Heimat, nach Budapest, geht. Florida entpuppt sich hier als das Surrogat des »Paradieses«, während das eigentliche Europa, Ungarn, Budapest als dem Ort ihrer Heimat und ihrer Wurzeln ist. Budapest ist der sogenannte U-tópos, der Nicht-Ort von »Stranger than Paradise«, der seinen geheimen Zielpunkt bildet. Die Rückkehr zum Ursprung als die Wiederherstellung des status quo ante.
Willie,
Willie und Eddie bei Aunt Lotte in Cleveland. (© 2015 Arthouse Filmverleih) Eva und ihre Tante Lotte (Cecilia Stark) in Cleveland teilen das Schicksal vieler amerikanischer Immigranten, die irgendwann einmal in der Hoffnung auf ein besseres Leben in die »neue Welt« aufgebrochen sind, ebenso häufig enttäuscht wurden, es unter Umständen nicht einmal gemerkt haben und in der Fremde ›hängengeblieben‹ sind. Aunt Lotte ist die Einwanderin der ersten Generation, eine betagte alte Dame irgendwo im Nirgendwo von Cleveland, die strenggenommen fremd ist in den USA, noch Ungarisch, ihre Muttersprache, spricht, nicht assimiliert ist. Währenddessen verleugnet Willie, ihr Neffe, seine Wurzeln und treibt Mimikry an die Fremde. Cleveland als der »zweiten Heimat« der ungarischen Tante, wo Eva mittlerweile untergekommen ist, bildet den Ort ihrer ersten Rückkehr zu ihren Wurzeln. Mit dem abrupten Flug nach Budapest erfolgt ihre endgültige Rückkehr.
»Stranger than Paradise«
Willie mit Eva beim TV-Diner. (© 2015 Arthouse Filmverleih) kann als Votum gegen die spätkapitalistische Moderne und für traditionale Gesellschaftsformen gelesen werden. Die erwähnten Innenräume, in denen Jarmuschs Film hauptsächlich spielt, fungieren als humane Zellen innerhalb des inhumanen Allgemeinen. Willies Wohnung bildet sein Refugium, aus dem er vorerst die Kraft nicht hat, auszubrechen. Innerhalb dieses Schutzraums herrscht die »ewige Wiederkehr« des Gleichen, die einzig durch die Cousine als dem »Neuen« gestört und durcheinandergebracht wird. Ablesbar ist diese konkrete Gestalt des Mythos an der Alltäglichkeit von Willies Leben und seinem ewigen Wechsel von kurzweiligem Vergnügen, das im Wesentlichen »Übertäubung« ist, und der darauf einsetzenden Ernüchterung im Bann des Alltäglichen. Dies erzeugt bei ihm eine fast konstant gereizte und schlechte Stimmung, die den gesamten Film über anhält. Daß er, der eigentlich ›Bela‹ heißt, sich in der »neuen Welt« ›Willie‹ nennt, ist keineswegs zufälliger Natur, sondern Ausdruck seiner Angepaßtheit und seines Versuchs, genauso amerikanisch wie sein Freund Eddie zu sein. Dadurch negiert er seine Individualität und wird austauschbar, ein Teil der Masse und einer von Vielen. Das Individuelle und das Verhältnis von Individuum und Masse ist überhaupt eines der implizit zentralen Themen des Films. Deutlich wird dies u.a. an der Weigerung Evas, die auffälligerweise den ganzen Film über als absolut selbstbestimmte und selbstbewußte Frau gezeichnet wird, das Kleid zu tragen, das ihr Cousin ihr geschenkt hat, weil »man es in Amerika so trägt«, weil es »Mode« ist. Ferner an ihrer Weigerung, die sogenannte »TV-Diner«-Fertigmahlzeit zu essen, die als Massenprodukt auch eines von vielen und als solches stets dasselbe ist. Und auch an Eddies Widerwille, die hausgemachte Gulaschsuppe von Aunt Lotte aufzuessen, die exemplarisch das Individuelle ihres Herkunftslandes Ungarn repräsentiert. Wie die Cousine ist aber auch Willie eigensinnig, wie im Film thematisch wird. Das ist vielleicht eines der Kennzeichen des In-dividuums, während Eddie im gesamten Film den Typus des Angepaßten repräsentiert. Wenn beide etwas gemeinsam unternehmen, entscheidet Willie. In einer der zentralen Szenen am Ende von »Stranger than Paradise«, als beide Freunde beschließen, statt auf Pferde auf Hunde zu setzen, ist es die einzige Entscheidung, die Eddie selbständig trifft, und sie scheitert. Überhaupt wird das Individuelle im Film an der Entscheidungskraft des Einzelnen bemessen, bei allen drei Hauptakteuren und auch bei Aunt Lotte. Daneben handelt Jarmuschs Film vom (Spiel-)Glück und vom Zufall: Sowohl Aunt Lotte als auch Eddie und Willie gewinnen jedes Kartenspiel. Das Spielglück, sowohl in den Kartenspielen als auch bei den Pferdewetten, ermöglicht ihnen jeweils den Ausbruch aus dem Alltag und seinen gewohnten Strukturen. Aber auch die Cousine hat, wie erwähnt, Glück, als sie für eine andere gehalten wird und dadurch eine große Summe Geld gewinnt.
Das gute und gelingende Leben, als dem Zielpunkt jeglicher Moralphilosophie, ist jeweils das Leben des Einzelnen in einem sozialen Gefüge. Jenes kann nur voll und ganz gelingen, wenn die Gesellschaft als die übergeordnete Sozietät intakt ist. Ansonsten ist es das »falsche Leben«, da ein richtiges im falschen, nach dem berühmten Diktum Adornos, nicht möglich ist. Aus diesem Grund scheitert im Film die moderne amerikanische Gesellschaftsordnung gegenüber der osteuropäischen kollektivistisch-traditionalistischen.
»Stranger than Paradise«
Evas und Willies Rückkehr nach Budapest. (© 2015 Arthouse Filmverleih) beginnt auf einem Flughafen mit der Ankunft Evas in den USA und er endet auf einem mit ihrer und Willies Rückkehr nach Budapest als ihrer Heimat. Der Film gleicht damit einer einzigen, riesigen Flughafenhalle, den USA, in der, wie in jeder realen, alles ähnlich ist und eines wie das andere aussieht. Dieser Zusammenhang wird auch explizit in der Feststellung Willies thematisch, nach der Cleveland vollkommen New York gleiche. Mit der Rückkehr der beiden nach Budapest, Ungarn als dem »Paradies« insinuiert Jarmusch daneben die Rückkehr aus dem »Land der Sünde« in ein moralisch intaktes und wertebasiertes soziales Gefüge, innerhalb dessen es noch ein richtiges Leben des Einzelnen gibt. Wenn man »Stranger than Paradise« als Parabel auf die Geschichte der Menschheit lesen will, dann ist die Welt nach dem Sündenfall nichts anderes als ein Transitraum zwischen dem Paradies und, nach ihrer Läuterung, ihrer Wiederherstellung in den ursprünglichen Zustand, die restitutio omnium, die Herkunft als Ziel.